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„Wanderndes“ Prioritätsrecht – eine neue Ausnahme des PCT-Verfahrens?

(Artikel von Dr. Thomas Rössler, LL.M.)

Wer eine Patentanmeldung einreicht, genießt ein Prioritätsrecht! Bei einer Nachanmeldung kann und darf der Anmelder damit „die Uhr zurückdrehen“.

Seit langer Zeit sieht die Rechtsprechung in diesem Prioritätsrecht ein eigenständiges, vom eigentlichen Recht auf das Patent lösgelöstes Recht. Es kann – und muss – daher regelmäßig auch getrennt übertragen werden.

Dies ist besonders wichtig, wenn Erst- und Nachanmelder nicht identisch sind: Denn in diesem Fall muss eine wirksame Übertragung des Prioritätsrecht auf den Nachanmelder nachgewiesen werden, noch dazu vor der Einreichung der Nachanmeldung. Kann dies nicht erfolgen, ist der Prioritätsanspruch der Nachanmeldung materiellrechtlich unwirksam. Letztere muss dann sämtlichen in der Zwischenzeit veröffentlichten Stand der Technik als solchen gegen sich gelten lassen.

Dies kann gar zur Zurückweisung von Patentanmeldungen führen, welche ansonsten zu erfolgreichen Patenterteilungen geführt hätten. Diese Folge ist für den Patentanmelder freilich katastrophal. Hier kann man in der Praxis also bestens komplett „an einer vergessenen Formalität scheitern“.

Vor dem Europäischen Patentamt (EPA) sollten also immer (wenn keine Übertragung des Prioritätsrechtes stattgefunden hat) „alle Anmelder“ der Prioritätsanmeldung bei den Anmeldern der Nachanmeldung mitgelistet sein.

 

Ausnahme bei besonderer Konstellation?

Über eine Art „Ausnahme“ zu dieser Regel im Rahmen einer europäischen Phase einer PCT-Anmeldung entscheidet demnächst die Große Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts (konsolidierte Verfahren G1/22 und G2/22).

In den Verfahren der Vorlageentscheidungen (T 1513/17 sowie T 2719/19) halten Anmelder A das nicht übertragene Prioritätsrecht. Sodann wurde, in Gemeinschaft mit den Parteien B, eine Internationale Patentanmeldung (PCT) als Nachanmeldung eingereicht, welche die Priorität der Erstanmeldung der Anmelder A formell beansprucht. Hierbei wurde eine geographische Aufteilung unter den gemeinsamen Anmeldern A und B gewählt: u.a. seien B allein die Anmelder für Europa (Euro-PCT-Phase vor dem EPA). Genießen die Anmelder B vor dem EPA eine materiell wirksame Priorität? Wirkt hier, anschaulich gesprochen, das gemeinsame PCT-Verfahren als „Brücke“?

Die Große Beschwerdekammer muss dabei sowohl eine vorgelagerte Zuständigkeitsfrage des EPA als auch die genannte Auslegungsrechtsfrage klären. Letztere wird sich in Anbetracht der sehr konkreten Fragestellung unmittelbar auf den Ausgang der Vorlageverfahren (ein Einspruchsverfahren sowie ein Erteilungsverfahren) auswirken. Wir erwarten gespannt die Entscheidung.

Update 15.10.2023: Die Fragen wurden nun von der Großen Beschwerdekammer entschieden. Es kann, insbesondere in solchen PCT-Konstellationen, von einer konkludenten Übertragung des Prioritätsrechts ausgegangen werden, jedenfalls bis das Gegenteil bewiesen ist. Eine solche Beweismöglichkeit aber auch -last hat dann regelmäßig, bezüglich des Prioritätsrechts, welches sich auf das Europäische Patentübereinkommen (EPÜ) stützt, die Partei, die dessen Unwirksamkeit geltend machen will. Einzelheiten finden sich in der Entscheidung der GBK .
Diese Entscheidung wird sicherlich dazu beitragen, dass in Zukunft Prioritätsansprüche durchaus auch mal „wandern“ können und im statistischen Mittel weniger an Formalitäten scheitern werden – wenngleich das Problem weiterhin bestehen und regelmäßig höchst relevant sein wird.

 

Was ist das Prioritätsrecht für Erfindungspatente?

Das Prioritätsrecht ist von fundamentaler Bedeutung im Patentrecht. Durch völkerrechtliche Verträge erkennen die meisten Länder der Welt gegenseitig ihre Marken und Erfindungen an, genauer: den so wertvollen Tag der ersten Einreichung.

Für Erfindungen bedeutet dies: Innerhalb von 12 Monaten ab Tag einer ersten Patentanmeldung kann ein Anmelder auch in anderen Ländern Patentschutz ersuchen. Dabei profitiert er in diesen Ländern von dem früheren Anmeldetag der ersten Anmeldung; es wird fingiert, der Anmelder habe seine weiteren Patentanmeldungen zeitgleich mit der Erstanmeldung, also „bereits schon vor einem Jahr“, eingereicht. Dieser legale Mechanismus des „Zurückdatierens“ ist in allzuvielen Fällen entscheidend für die Patentierbarkeit der Erfindung – für ein Erfindungspatent muss letztere schließlich neu sein: und zwar am Anmeldetag respektive Prioritätstag.

Das Prioritätssystem erlaubt so – wie auch das Internationale PCT-Anmeldeverfahren – weltweit für mehr Wirtschaftlichkeit, gepaart mit Möglichkeiten für internationalen Schutz.
So kann auch dem Einzelerfinder, welcher zu Beginn der Verwertung seiner Idee nur über beschränkte monetäre Mittel verfügt, später ein geographisch weitreichender Patentschutz zugänglich sein. Für ihn genügt zunächst eine Erstanmeldung (welche ein Prioritätsrecht wirksam begründet).

In größeren Unternehmen lassen sich währenddessen wichtige IP-strategische Entscheidungen vertagen, jedenfalls sofern man möchte: So kann für jede Erfindung individuell – später, und mit hinreichend Informationen zu Patentierbarkeit einerseits und Marktrelevanz und -erfolg andererseits – unter realitischer Analyse eine bewusste strategische Entscheidung zur internationalen Verwertung gefällt und im Vorfeld gegen die hiermit verbundenen Kosten aufgewogen werden, sodass das Geschäftsergebnis „unterm Strich“, welches erzielt werden wird, bereits deutlich souveräner antizipiert werden kann.

Dr. Thomas Rössler, LL.M.

European Patent Attorney

European Patent Litigator (Representative before the UPC)

 

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